Entdeckergeist mit bösen Folgen

Meine Mutter liess mich nie gerne ohne Aufsicht. Sie musste ausser Haus einer regelmässigen Arbeit nachgehen und konnte mich deshalb nicht ständig kontrollieren. Darum stellte sie mich, wenn schulfrei war, unter Grossmutter’s Obhut. Ich hasste dieses behütet werden, weil ich so meinen Entdeckergeist nicht frei befriedigen konnte. Gerade dieser Freiheitsdrang aber versetzte meine Mutter und Grossmutter in Unruhe, sie wollten wissen was ich vorhatte und wo ich mich herumtrieb.

Im Winter machte mir das Behütet werden weniger aus. Grossmutter wohnte nahe am Eisfeld und Schlittschuh laufen machte mir Spass. Aber sie war eine altmodisch denkende Frau, strenger als meine Mutter. Sie duldete nicht, dass ich nur Vergnügen im Kopf hatte. Ihrer Ansicht nach benahm ich mich nicht mädchenhaft und das war ihr ein Dorn im Auge. Darum zwang sie mich manchmal zu kleinen Handarbeiten, Taschentücher umhäckeln oder Küchentücher mit Kreuzchenstichen verzieren. Das würde sich für Mädchen so gehören, meinte sie. Aber damit hatte nichts am Hut und wäre lieber mit Grossvater im Keller am Werkeln gewesen. Auch wenn ich ab und zu meine Finger traf, so schlug ich dennoch viel lieber Nägel in Bretter, als langweilige Kreuzchen zu sticken.

Oft musste ich für Grossmutter kleine Botengänge erledigen, zum Milchmann oder zum Bäcker. Erst danach erlaubte sie mir den Grossvater aufzusuchen oder meinen sportlichen Ambitionen auf dem Eisfeld nachzugehen. Bei einem solchen Botengang schlenderte ich unlustig Richtung Bäckerladen. Missmutig schlenkerte ich die Einkaufstasche hin und her. Ich liess sie, wie ein Cowboy sein Lasso, über dem Kopf kreisen, warf sie hoch in die Luft und fing sie gerade noch auf, bevor sie über das Brückengeländer in den Bach hinunter fallen konnte. An diesem Morgen war es bitterkalt. Raureif hing an den Bäumen und eine blasse Sonne kämpfte sich mühsam durch den Bodennebel. Mein Atem dampfte und ich kam mir vor wie eine Lokomotive. Auf dem Brückengeländer war eine feine Schicht Eis und glitzerte wie Glimmer in der schwachen Morgensonne. Das faszinierte mich und mir kam eine Geschichte aus dem Kinderbuch »Die Turnachkinder im Winter« in den Sinn. Wie war das noch mit dem Knaben in der Geschichte, dem seine Zunge am vereisten Geländer kleben geblieben war? Eine Nachbarin war mit heissem Kaffee gerannt gekommen und hatte damit das Eis um die Zunge aufgetaut.

Neugierig wie ich war, wollte ich jetzt wissen, ob das wirklich so passiert. Erst spuckte ich auf meinen Zeigfinger und presste diesen aufs Geländer. Ein bisschen blieb er kleben, aber nur ein bisschen, also keine Gefahr. Ganz vorsichtig streckte ich jetzt meine Zungenspitze ans Geländer.

Oh, Gott im Himmel...! In der gleichen Sekunde zog es mir fast die ganze Zunge aus dem Gaumen. In Panik riss ich sie mit einem Ruck vom Geländer los. Das tat arg weh. Nun traute ich mich kaum nach Hause, schon gar nicht ohne das Brot, das ich einkaufen sollte. Was mich jetzt erwartete, das wusste ich nur zu gut. Leise und heimlich schlich ich durch den Keller ins Haus, in der Hoffnung dort erst auf den Grossvater zu treffen. Er war nicht da. Und dann kam was ich so fürchtete, Grossmutter schalt mich erzürnt aus:  »Welch ein Kreuz habe ich mir mit diesem Mädchen aufgebürdet!« Meine Neugier war auch ohne die Schimpftirade genug bestraft. Tagelang konnte ich nur flüssige Speisen mit dem Röhrchen zu mir nehmen. Salat musste ich eine ganze Weile nicht mehr essen.


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